Paris Is Burning

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Sie nennen sich Kinder. Sie sind Laufburschen, Wohlfahrtsempfänger, Dealer und Strichjungen. Sie sehen sich selbst als Krystle und Blake Carrington aus der Fernseh-Serie Denver Clan. Die Kinder leben in zwei Welten: in der Welt der armen Schwarzen und Latinos von New York City und in der Welt der 'Fernsehwirklichkeit', die sie durch ihre Aufmachung in Form von Wettbewerben, Tänzen und phantasievollen Performances zu imitieren suchen, in dem Bemühen, die mächtige Medienphantasie zu
überwinden, die sie ausschließt.
Die Mitglieder dieser Gruppe von ungefähr fünfhundert New Yorkern sind zwischen fünfzehn und fünfzig Jahren alt. Mit dem Gedankengut von Dallas, Denver und Vogue bestens vertraut, verwandeln sie ihre Liebe zum Fernsehen in eine reich improvisierende Sprache und Kultur. Der 75minütige Dokumentarfilm
PARIS IS BURNING zeigt Angehörige der Gruppe bei ihren Zusammenkünften an den Piers in Lower Manhattan und in Nachtclubs. Hier tauschen sie Neuigkeiten aus und Sex, hier veranstalten sie ihre Tanzwettbewerbe - voguing (auch vogueing) genannt, einem jüngst von dem Musikidol Madonna popularisierten Tanz, in dem sich die Akrobatik des Breakdance mit den Posen von Fotomodellen verbindet.
Auf der Straße oder in den Discos finden die Kinder das ihnen gemäße 'Haus'. Das 'House of Chanel', das 'House of Saint Laurent', das 'House of Ninja' und etwa 20 weitere solcher Gruppen bilden das Rückgrat dieser explosiven Subkultur. Jedes 'Haus' wird von einer 'Mutter' geleitet, einem Mann, der der Gruppe als geistiger und organisatorischer Anführer dient. Da viele von ihren richtigen Eltern und Familien aufgrund ihres Schwulseins abgelehnt werden, sorgen die Mitglieder der 'Häuser' untereinander für emotionalen Halt und manchmal für Geld.
Die Menschen eines Hauses leben nicht unbedingt zusammen; sie treffen sich vielmehr auf der Straße, in den Apartments und bei den allmonatlichen Modebällen. Hier wetteifern rivalisierende Häuser miteinander um Trophäen und Bargeldpreise. Nach Art der herkömmlichen Modenschauen, die Sportkleidung von Abendgarderobe usw. trennen, unterscheiden auch die Kinder ihre Bälle nach Kategorien. Zu den beliebteren Sparten zählen Gesicht- und Körperstyling, hochmodische Abendgarderobe, Performance (voguing) und 'Echtheit'. Die Kategorie 'Echtheit' bildet das Herzstück dessen, was einen Ball spannend, dramatisch und bedeutungsvoll macht. Hier versuchen 'femme queens' (die Tunten, Schwuchtein und Fummeltrinen, auch 'drag queens' genannt) wie echte Frauen auszusehen, während die 'butch queens' (die kerligen Tucken) das Aussehen und den Gang eines 'echten' - d.h. heterosexuellen - Mannes nachzuahmen trachten. Echtheit ist eine Kategorie, die alle sozialen Schichten umfaßt: beim 'Bangee' suchen die Wettstreiter Halbstarke beiderlei Geschlechts
zu imitieren, die auf der Straße herumlungern und die Nachbarschaft terrorisieren. Als' Schüler' tragen die Schwuchteln und Schwulen mit Lettern bedruckte Pullover, Mokassins und Bücher, während andere als 'Geschäftsmänner' gutgeschnittene Anzüge tragen und Köfferchen voller Flugtickets, Kreditkarten und Ausgaben des 'Wall Street Journal' mit sich führen.
Wenn sie bei diesen Bällen 'laufen', so feiern die Mitglieder der Häuser damit ihre eigene Fähigkeit, sich nach dem Bild einer Gesellschaft zu modeln, die sie ausschließt und häufiger noch ignoriert. Die Ballbesucher wollen sich weder den sozialen und sexuellen Stereotypen 'anpassen' noch sie verspotten. PARIS IS BURNING führt den Zuschauer in eine schwule Subkultur New Yorks; was er dort findet, ist der tiefe Überlebenswille dieser Menschen. Es ist eine Gruppe, die Bilder aus Mode und Werbung in ihre eigene Vorstellung von Seele verwandelt, in eine Welt voller Kreativität, Kraft und Lebensfreude.
(Produktionsmitteilung)
Laufsteg der Not
"Es ist ein kleiner Ruhm", sagt eine der Schwuchteln der New Yorker Ballszene. "Aber du kriegst ihn, du nimmst ihn - es ist ein gutes Hochgefühl, das süchtig macht, aber nicht schmerzt. Wenn die Leute mehr zum Ball gingen und weniger Stoff nähmen, wäre die Welt viel lustiger, stimmt's?"
Vielleicht, doch das ist kein Ball, wie Aschenputtel ihn kannte. Wir befinden uns in der bizarren Subkultur der armen schwulen Schwarzen und Hispanier New Yorks, die diesen kleinen Ruhm erlangen, indem sie in großer Aufmachung durch den Ballsaal stolzieren wie auf einem Laufsteg und die albernen Posen der
Knatterchargen aus Denver Clan und der Modelle aus den Modemagazinen nachahmen. (...)
Das 'Voguing', eine Mischung aus Breakdance und verrenkten Mannequin-Posen, ist eine Art gewaltfreier Kampf, in dem die beiden Rivalen sich durch die schiere Extravaganz ihrer Darbietung
zu übertreffen suchen. Es ist dies die höchste Form in der Kunst der Beleidigung, die mit verbalen Kränkungen beginnt ('Reading') und dann eine Art Pflichtkür der gegenseitigen Herabsetzung durchläuft ('Shade').
In den Wettbewerbssparten wird das verspielteste Kostüm und die phantasievollste Darbietung gewertet. Außer in jenen Kategorien, die 'Echtheit* verlangen, bei denen die Wettstreitenden die Juroren davon überzeugen müssen, daß sie auf die Straßen Manhattans hinausspazieren und akzeptiert werden könnten für das, was zu sein sie vorgeben: normale, rechtschaffene, seßhafte, steuerzahlende Bürger. (...)
Hugh Hebert, in: The Guardian, London, 7. April 1990
Kritik
(...) Es geht darum, so die Äußerungen der zahlreichen denkwürdigen Persönlichkeiten, die hier interviewt sind, eine Legende zu werden. "Die Bälle," so ein Teilnehmer, "sind so nah an Ruhm, Reichtum und Scheinwerferlicht, wie wir nur kommen können." Als Schwarze, Männer und Schwule haben diese Ruhmsucher in der realen Welt bereits drei Attribute gegen sich. Hier müssen sie sich nicht mit der normalen Gesellschaft vermischen - es sei denn, sie wollen in die Kategorie 'Echtheit' kommen, die sie danach beurteilt, wie gut sie als normale Männer oder Frauen durchgehen könnten.
Die Ball Wettbewerbe gestatten den Teilnehmern die Flucht aus dem Alltag. Bei allem Humor und aller Schönheit auf den Bällen ist jedoch ein Unterton von Trauer unüberhörbar. Viele ihrer ständigen Besucher stammen aus kaputten Familien oder wurden von den Eltern hinausgeworfen.
Das Schlußbild zeigt Corey beim Schminken, der über seine schwindenden Erwartungen spricht. "Jeder will etwas hinterlassen, einen Eindruck, eine Spur in der Welt," sagt er. "Dann denkst du nur noch, du hinterläßt eine Spur, wenn es dir gelingt zu überleben." Mehr als alles andere sind die interviewten Menschen Überlebende. (...)
Stev., in: Variety, New York, 15. Oktober 1990
(...) Schwule Kostümbälle sind natürlich nichts Neues. Schon seit der Zeit, als der erste schwule Höhlenmensch entdeckte, daß man ein Bärenfell auch schräg zuschneiden kann, bieten Fummelbälle eine Bühne für jede Art schwulen Treibens und rauschender Festlichkeiten. Ein Hauptkapitel in Parker Tylers und Charles Henri Fords klassischem Underground-Roman 'The Young and Evil', in dem die Autoren reichlich vom Slang und Stil der 30er Jahre Gebrauch machen, spielt auf einem dieser Bälle in Harlem. Und hier kommt nun Jennie Livingstons Film, die die neue Ballszene dokumentiert. (...)
Erklärtes Ziel ist es, wie ein echtes Fotomodell oder Mannequin zu wirken. Ungeheure Phantasie und Erfindungsgabe stecken in diesen Shows, und das emotionale Engagement ist auch nicht gerade gering. Obzwar diesen schwarzen und puertorikanischen Schwulen im wirklichen Leben vielleicht für immer jede Arbeit in der Haute Couture verwehrt bleiben wird, lassen sie sich gleichwohl durch nichts davon abhalten, dies in ihrer Phantasie zu erleben. Auf dieser Ebene, glaubt Jennie Livingston, stellen die Kids durch die Bälle die Verbindung zwischen sich und dem Rest der Welt her. "Wir leben in einer Gesellschaft, die von Werbung überschwemmt scheint und die uns genau sagt, wie wir auszusehen und uns zu verhalten haben. Der Film handelt nicht nur von ökonomisch benachteiligten Leuten, die aufsteigen wollen. Er wendet sich an all jene, die sich dem gleichen Druck seitens einer Kultur unterworfen sehen, die ihnen sagt, was sie sein müssen. Selbst als Frau oder Geschäftsmann oder Schüler spürt man diesen Druck. Die Bälle kreisen um all diese Fragen: Warum sind wir, wie wir sind? Warum kleiden wir uns auf diese Weise? Bekanntlich dauern die Bälle 18 Stunden. Einmal kam ich frühmorgens heraus auf die Straße und sah die Menschen, die zur Arbeit strebten. Es waren ganz gewöhnliche, alltägliche Menschen, aber ich ertappte mich dabei, wie ich sie musterte und mich fragte: 'Ist das ein Mann oder eine Frau?' Die ganze Bedeutung von Geschlecht war neu zu bestimmen. Daß eine Tunte einen glauben machen kann, er sei eine Frau, beweist, daß Geschlecht eine Konstruktion ist. Niemand von uns glaubt das im Innersten seines Herzens - wir alle laufen herum im Glauben an unsere
Echtheit. Schlimmer noch, wir wachsen auf in einer Gesellschaft, in der Menschen, die wahrhaft echt sind, im Fernsehen interviewt werden. Das heißt, berühmt werden bedeutet, ein wirklicher Mensch zu werden."
PARIS IS BURNING verdeutlicht die gewaltige Kluft zwischen den Träumen der Angehörigen dieser 'Häuser' und der Welt, in der sie tatsächlich leben. Die meisten von ihnen verrichten niedrige Bürotätigkeiten. Manche stehlen oder handeln mit Drogen, um ihren Modefimmel zu finanzieren; andere gehen auf den Strich. Zu den bewegendsten Momenten des Films gehören die Szenen mit einem solchen Strichjungen - einem zarten blonden Transvestiten namens Venus Xtravanganza (aus dem gleichnamigen Haus), der/die schwört: "Eines Tages werde ich heiraten, in der Kirche und in Weiß!" Stattdessen wird er/sie ermordet - offenkundig durch die Hand eines Kunden. (...)
David Ehrenstein, in: The Advocat, New York, 4. Dezember 1990
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Details

  • Länge

    78 min
  • Land

    USA
  • Vorführungsjahr

    1991
  • Herstellungsjahr

    1990
  • Regie

    Jennie Livingston
  • Mitwirkende

    Carmen and Brooke, André Christian, Dorian Corey, Paris Duprée, David The Father Xtravaganza, Anji (Angie) Xtravaganza, Bianca Xtravaganza, Danny Xtravaganza, David Xtravaganza, David Ian Xtravaganza, Venus Xtravaganza, Junior LaBeija, Pepper LaBeija, Sandy Ninja, Willi Ninja, Avis Pendavis, Freddie Pendavis, Kim Pendavis, Sol Pendavis, Stevie Saint Laurent, Octavia St. Laurent
  • Produktionsfirma

    Off White-Productions Inc.; WNYC-Television; BBC Television
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Dokumentarfilm
  • Teddy Award Gewinner

    Best Documentary/ Essay Film

Biografie Jennie Livingston

Studierte Englische Literatur an der Yale University und besuchte Filmkurse in New York, arbeitete als Fotografin und Autorin. Für ihr Regiedebüt, den Dokumentarfilm PARIS IS BURNING, erhielt sie Auszeichnungen auf zahlreichen Festivals, u.a. einen „Teddy“ bei der Berlinale 1991. Sie hat seither auch als Filmkuratorin und als Lehrbeauftragte gearbeitet.