Poison
POISON besteht aus drei ineinander verwobenen Geschichten von Gesetzesübertretungen und Strafen:
HERO beschreibt im Stil von Fernsehdokumentationen die Geschichte eines Siebenjährigen, der nach dem Mord an seinem Vater verschwindet.
HORROR, ein klassisches Schwarzweiß-Melodram, schildert die furchtbaren Experimente eines Wissenschaftlers, die seine eigene Verseuchung und seinen Verfall herbeiführen.
In HOMO verliebt sich ein Gefangener in einen grausamen, schönen Mithäftling.
Durch seine originelle Mischung aus innovativen und populären Filmstilen gelingt es POISON, die Kluft zwischen Kunst und Kommerzkino zu überbrücken.
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Aus einem Gespräch mit Todd Haynes
F: Sie haben ein Faible für Jean Genêt. Welchen Stellenwert hat seine Ästhetik für POISON?
T: POISON handelt von den Strukturen, die die Gesellschaft einsetzt, um Außenseiter fernzuhalten. Dies wird auf dreierlei Weise gezeigt, an drei verschiedenen Schauplätzen und in drei verschiedenen Stilen. Man geht kontinuierlich von einer Geschichte zur nächsten.
F: Wie sexuell explizit ist POISON?
T: Er ist durch und durch homoerotisch. Er ist schön photographiert und wunderbar ausgeleuchtet.
F: Glauben Sie, dass Hollywood wegen seiner Homoerotik die Finger davon gelassen hat?
T: Mit Sicherheit, obwohl es bei Leuten aus Hollywood ständig Interesse an POISON gegeben hat, einfach weil ich etwas mache, was sie machen wollten.
F: Sind sie noch bei ACT UP?
T: Ich nehme wegen der Produktionsarbeit an POISON nicht mehr so häufig daran teil wie früher, aber ich bin sehr stark darin engagiert. Was mich im Augenblick an der AIDS-Krise interessierte, war die kulturelle Reaktion auf AIDS, vor allem innerhalb der Schwulen- und Lesbenszene. Wir suchten mit allen Mitteln, uns selbst zu „reinigen“. Wir wollten „defensiv“ und „gut“ und „rein“ sein, alles Dinge, gegen die sich Genêt vehement wandte. Ihn interessierten die verbotenen Elemente der Homosexualität.
F: Der Film ist aber in Wirklichkeit eine Art Ausdruck von Aktivismus.
T: Er ist sicherlich ein Versuch, die sexuelle Identität eines homosexuellen Protagonisten wieder geltend zu machen, will aber untersuchen, wie man sich in diese Gesellschaft einfügt und ob man dies überhaupt will.
F: Glauben Sie, dass seine Schwulenthematik die Leute gegen POISON einnehmen wird?
T: Das Publikum – was immer das ist – ist jedenfalls klüger, als ich das für möglich hielt. POISON spielt mit vertrauten Genres. Eine Sequenz, die in einem Gefängnis spielt, hat einen leichten Anflug von Groschen- und Schundromanen, doch sie wird poetisch in dem Moment, da man die Gedanken der Hauptfigur kennenlernt.
F: Waren sie jemals im Gefängnis?
T: Nein, ich war nie im Knast. Ich war im Stadtgefängnis. Aber lassen wir das.
F: Warum der Entschluss, Sex „geschmackvoll“ zu machen? Wegen Jesse Helms?
T: Oh nein, keineswegs. Der Film ist auch so noch immer wirklich sexy. Wir haben eine Einstellung drin von einem Schwanz, die wir vielleicht schneiden müssen, um das Jugendverbot zu vermeiden. Ich bin sicher, dass sie schockierender ist als ich sie wahrnehme – ich bin wahrscheinlich inzwischen daran gewöhnt.
Manohla Dargis, in: Andy Warhol’s Interview, New York, 5/90
Das Gift eines Anderen – Bericht von den Dreharbeiten
Es war das Aufsehen, das SUPERSTAR: THE KAREN CARPENTER STORY erregte, das einige Hollywoodgrößen veranlasste, seinen Regisseur Todd Haynes zu hofieren. Doch eine ganze Reihe dieser Industrietypen verdienen sechsstellige Beträge, indem sie sicherstellen, dass eine Person oder ein Projekt weitergeleitet werden darf – ohne damit Haynes Leistung oder Talent schmälern zu wollen. Ohne jeden Anflug von Ironie schildert Haynes seine Erfahrung mit Hollywood. „Ich bekam Anrufe von Disney, United Artists und unabhängigen Produzenten wie Stuart Cornfeld und Jonathan Demme, und so schickte ich ihnen das Script von POISON. Sie waren alle sehr wohlwollend – sie sagten, das ist nichts für uns, aber wir warten gespannt auf ihr nächstes Werk.“ (Oh, klar, Todd, aber wünschst du dir nicht, du hättest die Berichte der Lektoren sehen können?). Während das parodistische Feuerwerk der „Pop“-Biographie von SUPERSTAR vermuten ließ, dass Haynes der nächste David Lynch werden könnte, ist POISON als explizit schwules Sujet offensichtlich ein Tabuthema.
Haynes erklärt, er habe das Angebot bekommen, etwas für „New Lines“ zu machen, sich dann aber entschlossen, seinen ersten Spielfilm nach eigenem Gusto zu drehen. Das Budget für POISON von $ 190.000 setzt sich zusammen aus Fördermitteln und Geldern privater Investoren. Das Vorhaben wurde unterstützt vom New York State Council on the Arts, der New York Foundation of the Arts und der Jerome Foundation, wurde aber vom National Endowment for the Arts abgelehnt, der Vorsicht walten ließ, noch bevor Jesse Helms auf die Bildfläche trat. „Wir bildeten eine GmbH, um zu garantieren, dass die Investoren 125% der Einlage vor jeder Gewinnausschüttung bekommen“, erklärt Haynes. „Da SUPERSTAR überall gezeigt wurde, gibt es, glaube ich, eine gute Chance, dass auch dieser Film zufriedenstellend laufen wird.“
„Es ist das erste Mal, dass ich in dieser Größenordnung gearbeitet habe, und es war großartig“, fährt der Filmemacher fort. Haynes sitzt zusammen mit seinem Stab und seinen Darstellern auf dem schmutzigen Boden eines ehemaligen Stadtbüros in 80, Centre Street (vermittelt durch das Büro des Bürgermeisters für Film, Theater und Rundfunk). Alle stopfen hastig gebratene Hähnchenteile, Chili und Schokoladenplätzchen in sich rein. Es ist wichtig, die Leute am Drehort mit Essen bei Laune zu halten, vor allem wenn man ihnen wenig oder gar nichts zahlt. Die meisten Hauptdarsteller der Produktion, darunter Regie-Assistentin und Co- Produzentin Christine Vachon, gehören zu „Apparatus“, jener im Zentrum der Stadt gelegenen Filmgesellschaft, die Haynes zusammen mit Vachon und Barry Ellsworth nach Beendigung ihres Studiums an der Brown University Mitte der 80er Jahre gründete. POISON ist aus drei stilistisch unterschiedlichen Geschichten komponiert, die durch die Montage miteinander verschränkt werden sollen, sogar mehr, als im Script zunächst vorgesehen war. Sie heißen „Hero“, „Horror“ und „Homo“ und handeln auf unterschiedliche Weise von den „Formen des kulturellen Diskurses hinsichtlich der Frage von Normalität, Devianz, kultureller Konditionierung und Krankheit“ (zitiert aus einem von Haynes Förderanträgen). Oder, wie er allgemeinverständlicher sagt: „Alle drei stellen ihre Hauptfigur in Opposition zur Gesellschaft.“ „Hero“ handelt von einem Siebenjährigen, der seinen Vater erschießt, sich durchs Fenster davonmacht und nie wieder gesehen wird. Zumindest erzählt die Mutter die Geschichte so. Sie wird in einem pseudo-dokumentarischen, tableauartigen Fernsehstil geschildert. Nach und nach kristallisiert sich ein komplexes Bild dieses Kindes heraus – in dessen Abwesenheit. Es wurde z.B. in der Schule oft geschlagen, doch vielleicht hat es die Situationen, die dazu führten, absichtlich herbeigeführt.
„Horror“ ist wie ein klassischer Schwarzweiß-Horrorfilm der 60er Jahre gedreht. Es handelt sich um eine AIDS-Metapher: ein Wissenschaftler entdeckt das Hormon, das für den Sexualtrieb verantwortlich ist, infiziert sich damit und beginnt körperlich zu verfallen. Haynes größtes Anliegen in „Horror“ ist nicht speziell AIDS, sondern eher die Darstellung „der Paranoia, mit der die Medien abweichendes Verhalten darstellen“, wie die Unschuld des Kino- oder Fernsehzuschauers durch die Betonung der Unschuld des Monsters hergestellt wird.
„Homo“ basiert auf Jean Grenêts „Wunder der Rose“. In einem Gefängnis der 40er Jahre angesiedelt, stellt es erotische Erinnerungen an eine sexuelle Initiation in einer Besserungsanstalt brutalem Sexualverhalten unter inhaftierten Erwachsenen gegenüber. Haynes Drehbuch fügt Dialoge aus einem Sadomaso-Männerporno mit lyrischen Off-Zitaten von Genêt zusammen. Es ist der roheste dieser drei Teile und mehr eine Hommage an die Subversion als eine Parodie des Durchschnittsbürgers. Haynes, der Genêts eigenen Film UN CHANT D’AMOUR als Inspirationsquelle für sich in Anspruch nimmt, gibt eindeutig zu verstehen, dass er den Ansatz von Fassbinders QUERELLE nicht übernehmen wird. Obwohl QUERELLE nicht als Modell für POISON diente, nennt Haynes Fassbinder neben Sirk, Hitchcock und Welles als stilbildenden filmischen Einfluss. Haynes ist in Los Angeles aufgewachsen (seine Familie war nicht in der Industrie tätig) und begann in der Grammar School Filme zu drehen. Er zeigte eine frühe Vorliebe für schlagkräftige Titel, darunter SUICIDE und SEX SHOP. Als Semiotik-Student an der Brown University eingeschrieben, drehte er ASSASSINS: A FILM CONCERNING RIMBAUD und SUPERSTAR. Wie POISON ist auch SUPERSTAR, wenngleich weniger aufwendig produziert, ein nahtloses Zusammenspiel scheinbar unvereinbarer Fragmente – die berüchtigten Barbie-Puppen-Sequenzen (die nach dem ersten Schock so banal werden wie Santa Barbara), Wochenschaumaterial, „Experten“-Kommentare in der Gestalt sprechender Köpfe und expressive Traumbilder. Was mich dazu veranlasst, Haynes zu fragen, was er vom Fernsehen halte.
„Ich hasse es, aber dennoch sehe ich fern. Ich meine, man lernt aus dem Fernsehen mehr über unsere Zivilisation als irgendwo sonst.“
Das mag leicht klingen, aber POISON, ein aus der täglichen Fernsehration destillierter Film, verspricht alles andere zu werden – nur nicht leicht.
Amy Taubin, in: The Village Voice, New York, 29. August 1989
Details
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Länge
85 min -
Land
USA -
Vorführungsjahr
1991 -
Herstellungsjahr
1990 -
Regie
Todd Haynes -
Mitwirkende
Edith Meeks, Millie White, Buck Smith, Anne Giotta, Lydia Lafleur, Ian Nemser, Rob LaBelle, Evan Dunsky, Marina Lutz, Barry Cassidy, Richard Anthony, Angela M. Schreiber, Justin Silverstein, Chris Singh, Edward Allen, Carlos Jimenez, Larry Maxwell, Susan Gayle Norman (aka: Susan Norman), Al Quagliata, Michelle Sullivan, Parlan McGaw, Frank O'Donnell, Melissa Brown, Joe Dietl, Richard Hansen, Scott Renderer, James Lyons, Tony Pemberton, Andrew Harpending, John R. Lombardi, Tony Gigante, Douglas F. Gibson, Damien Garcia, Les Simpson, Joey Grant, Gary Ray, David Danford, Jason Bauer, Ken Schatz, Maurice Clapisson, Matthew Ebert -
Produktionsfirma
Bronze Eye Productions -
Berlinale Sektion
Forum -
Berlinale Kategorie
Spielfilm -
Teddy Award Gewinner
Best Feature Film
Biografie Todd Haynes
Todd Haynes war schon immer an Kunst interessiert und machte schon als Kind Amateurfilme und malte. Er besuchte die Brown-Universität und studierte Kunst und Semiotik als Hauptfach. Nach seinem Abschluss zog er nach New York City und drehte den umstrittenen Kurzfilm Superstar: Die Karen Carpenter Story (1988). Der Film verwendet Puppen anstelle von Schauspielern, um die Geschichte der verstorbenen Karen Carpenter zu erzählen. Der Film war ein Erfolg auf mehreren Filmfestivals, und wegen einer Klage von Richard Carpenter (wegen der Musikrechte) ist er sehr schwer zu sehen, aber er ist ein echter Klassiker für Raubkopie-Käufer. Sein erster Spielfilm, Poison (1991), war sogar noch umstrittener. Der Film wurde von Konservativen und Christen angegriffen, die sagten, er sei pornografisch, aber er gewann den Großen Preis der Jury beim Sundance Film Festival. Er gilt heute als ein bahnbrechendes Werk des neuen Queer Cinema. Sein Kurzfilm Dottie Gets Spanked (1993) wurde auf PBS ausgestrahlt. Sein nächster Spielfilm Safe (1995) erzählte die Geschichte einer Frau, die von seiner guten Freundin Julianne Moore gespielt wird, die an einem Zusammenbruch aufgrund einer mysteriösen Krankheit leidet. Viele hielten den Film für eine Metapher des Aids-Virus. Der Film galt als ein herausragendes Werk und als einer der besten Filme des Jahres. In Velvet Goldmine (1998), mit Christian Bale und Ewan McGregor in den Hauptrollen, verbindet er den visuellen Stil der Kunstfilme der 60er/70er Jahre und seine Liebe zur Glam-Rock-Musik, um die Geschichte des Aufstiegs und Untergangs eines fiktiven Rockstars zu erzählen. Dem Himmel so fern (2002), der in den 1950er Jahren spielt, mit Julianne Moore und Dennis Quaid in den Hauptrollen, handelt von einer Hausfrau aus Connecticut, die entdeckt, dass ihr Mann schwul ist, und eine Affäre mit ihrem schwarzen Gärtner hat, gespielt von Dennis Haysbert. Der Film war ein kritischer Erfolg und wurde mit vier Oscars ausgezeichnet. Er wurde als Durchbruch für den Independent Film gefeiert und brachte Haynes die Anerkennung des Mainstreams. Mit I'm Not There (2007) kehrte Haynes zum Thema Musical-Legende Bio zurück und porträtierte Bob Dylan über sieben fiktive Charaktere, die von sechs verschiedenen Schauspielern gespielt werden. Der Film brachte ihm kritischen Anspruch, mit besonderem Augenmerk auf die Besetzung von Cate Blanchett als die wohl überzeugendste der Dylan-Figuren, für die sie eine Oscar-Nominierung erhielt. 2011 führte Haynes bei Mildred Pierce, einer fünfstündigen Miniserie für HBO mit Kate Winslet in der Titelrolle, Regie. Sein neuer Spielfilm Carol (2015) mit Cate Blanchett wurde beim Cannes International Festival 2015 uraufgeführt und erhielt begeisterte Kritiken und wurde als Beste Schauspielerin für Rooney Mara ausgezeichnet.
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