Zero Degrees Of Separation

placeholder

Inhalt
Wenn die Person, die du liebst, politisch betrachtet dein Feind ist, dann kann in dieser Beziehung leicht mehr auf dem Spiel stehen als bei einer normalen Affäre. Selim und Ezra lieben sich und stecken damit mittendrin im Konflikt zwischen Israel und Palästina. Selim ist Palästinenser, Ezra ein Israeli. Samira und Edit sind sich auf einer Demonstration begegnet. Auch sie lieben sich. Samira ist Palästinenserin, Edit Israelin. Der Dokumentarfilm ZERO DEGREES OF SEPARATION nimmt das Publikum mit auf eine einzigartige Reise durch die komplexen Lebensumstände lesbischer und schwuler Israelis und Palästinenser in interethnischen Liebesbeziehungen. Obwohl sie am Rande der Gesellschaft leben, zeigen sie allen Widrigkeiten zum Trotz mitten in diesem Konflikt einfühlsame Menschlichkeit und gegenseitigen Respekt. Mit diesen Geschichten verwoben ist die der Filmemacherin Elle Flanders selbst, die bei zionistischen Großeltern aufgewachsen ist, die an der Gründung des Staates Israel unmittelbar beteiligt waren. Mit Hilfe von Home Movies holt sie die Vergangenheit in die Gegenwart zurück. Die Filmemacherin begibt sich auf die Spuren der Reisen ihrer Großeltern durch eine im Entstehen begriffene Nation, in der es von jugendlichen Pionieren, Immigranten und Flüchtlingen nur so wimmelte und die endlos weite Aussichten auf das Heilige Land bot. In scharfem Kontrast dazu werden in den aktuellen Bildern von der Okkupation die Risse im Fundament dieses Landes sichtbar. Die Palästinenserinnen und Palästinenser in ZERO DEGREES OF SEPARATION sind unzähligen Hindernissen ausgesetzt, sie befinden sich permanent auf Umwegen, müssen bestimmten Straßen, ihren eigenen Häusern, ihrem Land und ihrem Leben immer wieder ‘aus dem Weg gehen’. Und obwohl sie tagtäglich mit Gewalt konfrontiert sind, besteht die wohl größte Behinderung des täglichen Lebens von Palästinenserinnen und Palästinensern in den israelischen Bulldozern, die Häuser zerstören, Absperrungen und Siedlungen errichten, Straßen umleiten und zerstören, was noch von diesem Land übrig ist. Elle Flanders bricht mit der sensationalistischen Medienberichterstattung über die Gewalt im Nahen Osten, indem sie den Alltag einzelner Menschen zeigt, die den Mut haben, mit kleinen Schritten ganz individuelle Wege in Richtung Frieden, gegenseitigem Respekt und neuer Hoffnung beschreiten. An ihrem Beispiel errichtet ZERO DEGREES OF SEPARATION Brücken, wo sonst nur Mauern existieren.
Produktionsmitteilung
 
Die Regisseurin über den Film
1971 bin ich mit meiner Familie nach Israel gezogen. Wir waren Einwanderer, Juden, die nach Zion zurückkehrten. Ich war in der ersten Klasse und lernte eine Menge neuer Dinge, wie zum Beispiel eine neue Sprache und woran man einen Terroristen erkennt; uns wurde beigebracht, misstrauisch zu sein gegenüber denjenigen, die ‘kafiyas’ (arabische Kopfbedeckungen, das so genannte Palästinensertuch) trugen. Ich lernte auch, dass die meisten arabischen Länder nicht wollten, dass der Staat Israel existierte, und Juden gegenüber ziemlich feindselig eingestellt waren. Bis 1982 lebte ich immer mal wieder in Israel, danach kam ich nur noch selten dorthin zurück. Ich wurde Filmemacherin und politische Aktivistin. Gleichzeitig lernte ich auch, einen anderen Blickwinkel einzunehmen, einen, der die Geschichte des Konflikts aus der Sicht der Palästinenser mit ihren Erfahrungen von Enteignung und Exil betrachtet. Ich erfuhr, dass unser Befreiungskrieg von 1948 ihr ‘Nakba’ oder Unglück war. Ich entschied mich, nicht mehr länger nur unbeteiligte Zuschauerin des Konflikts zu sein. Nachdem meine Großeltern gestorben waren, entdeckte ich ein Archiv in ihrem Jerusalemer Haus, eine Kiste mit 16mm-Filmen, die in einem Zeitraum von fünfzig Jahren gedreht worden waren. Einige dieser Filme zeigen Impressionen von der Errichtung des Staates Israel und dokumentieren den Anteil, den meine Großeltern daran hatten. Aufgrund dieser Aufnahmen und vor dem Hintergrund meines politischen Engagements für Frieden und Gerechtigkeit in Israel und Palästina beschloss ich, mit meiner Kamera zurückzukehren, um mich mit den für mich persönlich bedeutsamen sowie den politischen Aspekten dieses Konflikts zu beschäftigen. Zur selben Zeit hatte ich von einem schwulen Paar gehört, einem jüdischen Israeli und einem Palästinenser, die versuchten, in dem permanenten Konflikt zu überleben. Ezra arbeitet als Klempner und Friedensaktivist, sein Freund Selim, der erst kürzlich aus einem israelischen Gefängnis entlassen wurde, ist Aktivist seit der ersten Intifada. Mein erster Gedanke damals war: Wenn eine schwule Liebesbeziehung sich über die Grenzen des Konflikts hinweg entwickeln kann, vielleicht gibt es dann auch Hoffnung für andere. Ich begann, für meinen Film über diese Paare zu recherchieren. Bei meinem ersten Kontakt mit Ezra wiederholte er meinen Nachnamen, der ihm bekannt vorkam. Es stellte sich heraus, dass wir uns schon einmal begegnet waren: Er war der Gärtner meiner Großeltern gewesen. Damit war unser Schicksal besiegelt und ZERO DEGREES geboren. ZERO DEGREES OF SEPARATION ist eine Fortführung meiner Auseinandersetzung mit den Themen Exil, Vertreibung und soziale Ungerechtigkeit. Es ist ein Film, der nicht nur meine Leidenschaften und meine politischen Überzeugungen miteinander verbindet, sondern auch meine
persönliche Geschichte mit der anderer Menschen, die wie ich versuchen, ihren individuellen Lebensweg allen historischen Widrigkeiten zum Trotz zu finden.
 
Interview mit Elle Flanders

Frage: Die Art und Weise, wie du das vorgefundene Material – die 16mm-Filme deiner Großeltern -handhabst, ist sehr beeindruckend. Du ziehst es nicht einfach als historische Quelle heran, sondern als Zugang zur Gegenwart, ebenso wie du es nicht einfach nur zur Betrachtung deiner persönlichen Geschichte oder der deiner Großeltern verwendest, sondern damit die Geschichte Israels und Palästinas erzählst. Wie hast du deinen Umgang mit dem ‘Privaten und Politischen’ in ZERO DEGREES OF SEPARATION entwickelt?
Elle Flanders: Ich habe die Filme im Haus meiner Großeltern in Jerusalem gefunden, ich habe sie gereinigt und ausgebessert und dann gesichtet – wie einen Schatz oder ein Fetischobjekt. Ich spürte sofort das Glück und die Aufregung meiner Großeltern über ihre Begegnung mit Palästina. Seit den zwanziger Jahren reiste mein Großvater immer wieder dorthin und beteiligte sich an der Mission, einen jüdischen Staat zu gründen. Nach dem Holocaust wurde die Gründung des jüdischen Staates für ihn und meine Großmutter zu einer gemeinsamen Aufgabe und Leidenschaft – was nicht voneinander zu trennen ist. Ich hatte ebenfalls eine Aufgabe und eine Leidenschaft, nämlich die Realität Israels und Palästinas so zu vermitteln, wie ich sie sehe, rückblickend, aus der Perspektive von Gerechtigkeit, Frieden und Verantwortung. Mir war klar, dass wir uns auf einer ähnlichen Reise befanden, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt bereits von Edward Saids Arbeiten über den Orientalismus und Noam Chomskys Arbeiten über fast alle anderen Themen profitiert hatte. Hinzu kam ein durch kritische Theorie geschulter Sinn für historisch und gesellschaftlich spezifische Wahrnehmungsweisen. Beim Betrachten der Filme war ich fasziniert von dem, was ich zu sehen bekam, was meine Großeltern für die Aufzeichnung ausgewählt hatten und von der veränderten Bedeutung, die man dem Gezeigten heute zumisst. Natürlich habe ich das Material in einen neuen Zusammenhang gestellt, um deutlich zu machen, dass alles, was wir über die heutige Situation wissen müssen, bereits in diesen Aufnahmen enthalten ist. Das Archiv enthält die Gegenwart. Ich habe mich immer wieder gefragt, woran sie während der Aufnahmen gedacht haben mögen? Was haben sie gesehen, was nicht? Was entscheidet darüber, worauf der Blick sich richtet? Ich achtete sehr darauf, meine Großeltern weder als Einzelpersonen noch in irgendeiner anderen Eigenschaft zu verurteilen. Ich nehme ihre Filme vielmehr als Bezugspunkt für meine eigene Untersuchung von Sehgewohnheiten, Aufzeichnungsweisen und Formen politischer Analyse – oder eben deren Abwesenheit. Ich frage mich, ob sie bestimmte Dinge gesehen oder bewusst übersehen haben, weil sie nichts von ihnen wissen wollten. Genauer gesagt: Was bedeuteten ihnen die Palästinenser, die sie gefilmt haben? Waren sie sich darüber bewusst, dass sie gerade dabei waren, sie zu vertreiben? Betrachteten sie die Palästinenser damals schon als Feinde? Es scheint, als seien sie in den Bildern eher ein Kuriosum, ein Typus des Nahen Ostens, wie der Orientalismus ihn beschreibt und sieht. Meine Großeltern fungieren hier eindeutig als Voyeure und Fremde in einem fremden Land. Aber ich frage mich, was sie in diesen Momenten gedacht haben. Wie kann man sich entscheiden, ‘nicht zu wissen’, was gerade geschieht? Das führt natürlich zu Fragen nach der Verantwortung für das eigene Handeln, nach Schuld usw. Ich habe größtenteils nicht in die Aufnahmen eingegriffen, das heißt das Material nicht geschnitten. Mit Ausnahme von zwei Stellen: zu Beginn des Films, um das Material und das Konzept vorzustellen, und am Ende des Films für den Abspann. Ich bin tatsächlich sehr formal an die Aufnahmen herangegangen, ich wollte so weit wie möglich ihre Integrität wahren. Und das nicht etwa aus einem naiven Glauben an die Wahrheit und die Kraft des Dokumentarischen heraus – ich bin die Letzte, die so einen Gedanken verfolgen würde. Ich wollte dem Publikum bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit geben, die gleichen Erfahrungen zu machen wie ich, als ich das Material zu sehen bekam; und ich wollte, was noch wichtiger ist, für mich und alle anderen sichtbar machen, wie meine Großeltern ihre Zeit in Palästina dokumentiert haben: ihre Erlebnisse, ihre Reise, ihre Fahrt durch Palästina. Ich stelle ihre Reise in meiner eigenen, von meinen politischen Ansichten geprägten Fahrt nach und dann auch mit Ezras Tour, der mir auf seine Art und Weise die Landschaft zeigt. (...) Darauf wollte ich verweisen, indem ich die Bilder des alten Materials nachzustellen und die Fahrt aus einem heutigen Blickwinkel zu wiederholen versuchte. Ich denke, meine Entscheidung, die Aufnahmen meiner Großeltern für eine politische Untersuchung der Gegenwart zu verwenden, kann nicht von meiner Liebe für meine Großeltern getrennt werden. Ich glaube, ich behandele das Archiv mit so viel Sorgfalt, Genauigkeit und Aufmerksamkeit, dass mein Verhältnis zu meinen Großeltern durchaus deutlich wird. Wir waren politisch vielleicht nicht einer Meinung, aber ich habe sie niemals auch nur ansatzweise verurteilt, sondern versucht, ihre Entscheidungen vor dem geschichtlichen Hintergrund zu verstehen. Mit anonymen Filmaufnahmen wäre das nicht möglich gewesen.
Frage: Du hast dich entschieden, die Geschichte und die Geschichten deines Films vor allem anhand verschiedener Beziehungen zu erzählen. Wie ist deine Position gegenüber diesen Beziehungen, sowohl mit Blick auf die beteiligten Personen als auch mit Blick auf begriffliche Überlegungen, die sicher auch eine Rolle gespielt haben?
E.F.: Ich denke, es ist nur fair, wenn ich sage, dass mein Verhältnis zu allen meinen Figuren in gewisser Weise angespannt ist. Ich bin mir nicht sicher, wie sich das vermittelt, aber ich denke, wir werden von keiner Person ‘mitgerissen’, auch nicht von Ezra; wir können zu niemandem eine tiefe Verbindung aufbauen oder uns mit einer Person wirklich identifizieren. Ich denke, dass das zum Teil mit meinen eigenen Grenzen zu tun hat. Mich haben weniger die Geschichten der einzelnen Personen interessiert als die jeweilige Lage, in der sie sich befinden. Das Gleiche könnte ich von meinen Großeltern sagen. Ist ihre Geschichte wirklich so einzigartig? Oder spiegeln sich in ihr nicht einfach die Verhältnisse wider? Meine Antwort auf diese Frage ist vielleicht nicht gerade befriedigend für diejenigen, die meinen, dass wir mit den im Film vorgeführten Subjektpositionen Identifikationsmodelle kreieren sollten, und das mag auch gerade das Manko von ZERO DEGREES OF SEPARATION sein. Aber nach meinem Gefühl ist das nicht wirklich ein Film über Beziehungen oder über Liebe. Ich glaube, dass Beziehungen, also alles Zwischenmenschliche, das ist, worüber ich am meisten nachdenke – die Psychologie von Individuen, und wie wir uns zueinander verhalten. Wie sich unsere Vergangenheit im Leben wiederholt, und was für einen faszinierenden Zyklus diese Wiederholungen bilden; ihn gilt es zu begreifen. Ich bin vielleicht nicht auf die eher traditionellen Aspekte romantischer Beziehungen eingegangen, aber ich habe untersucht, wie Individuen – mich selbst eingeschlossen – ihre komplexe Vergangenheit in ihre gegenwärtigen Beziehungen hineintragen, sie verarbeiten und ausleben. Vielleicht habe ich die Vorstellung von einer ‘Beziehung’ – der zwischen mir und meinen Großeltern, derjenigen der Charaktere untereinander – nur verwendet, um bestimmte Aspekte eines ganz anders gelagerten Problems zu verdeutlichen, bei dem es im Kern um die Bedeutung von Geschichte und unsere Position innerhalb von ihr geht. Damit bin ich wohl wieder beim Thema der persönlichen Verantwortung, für die meiner Ansicht nach alle im Film gezeigten Personen ein Beispiel geben. Jede einzelne von ihnen verhält sich äußerst verantwortungsbewusst; auch ich, indem ich das Archiv meiner Großeltern durcharbeite, wiederhole und damit auch dekonstruiere.
Frage: In ZERO DEGREES OF SEPARATION wird deutlich, dass Liebe nicht alles ist. Liebe und Geschichte – und Politik – bilden kein Fortschrittsverhältnis, das von einer romantischen Vorstellung von Vollständigkeit ausgeht, sondern sind von Brüchen und Verbindungen, von Kontinuität und Endpunkten bestimmt. Dein Umgang mit den Liebes-Beziehungen erscheint wie ein kritischer Kommentar zur Funktion des Narrativen, sowohl im Verhältnis zur Geschichte – Historismus oder Anti-Historismus? – als auch zum Medium Film. Kannst du auf deinen Umgang mit Narration näher eingehen?
E.F.: Manchmal ist es tatsächlich ein Erzählimpuls, der mich antreibt, und dann sind es wieder Vorstellungen von Liebe, Geschichte und Politik. Ich glaube, das treibt uns alle an. Der Unterschied liegt in dem, was wir daraus machen. Ich denke, ZERO DEGREES OF SEPARATION verfolgt bestimmte Stränge; wir wissen genau, dass sie nichts als Fäden sind und nie zu einem wirklich zusammenhängenden Geflecht verwoben sein werden. Ich gebe aber zu, dass es oftmals ausgesprochen verlockend erscheint, genau dies zu tun: zu vervollständigen, exakt zu vernähen, ohne Angst zu lieben. Allerdings kann ich nicht behaupten, einen dieser Zustände je erreicht zu haben. Aber allein der Wunsch danach ist im Grunde der entscheidende Punkt. Ich bin mir nicht sicher, ob dies eine weniger romantische Vorstellung ist als die Idee der Vollständigkeit. Vermutlich meine ich damit, dass romantische Gedanken von Liebe ebenso sehr von der Gleichzeitigkeit von Brüchen und Verbindungen bestimmt sind. Damit bleiben mir nur meine Fragmente, und sie sind es, die mich antreiben. Genau darin liegt für mich die Bedeutung. Ich habe nie auch nur einen Moment lang geglaubt, dass Liebe uns wirklich durch etwas hindurchhelfen kann. Und, was vielleicht wichtiger ist, ich habe mich entschieden, keine große Liebesgeschichte zum Thema zu machen, weil mir schien, dass es darauf nicht ankam. Ich habe mich für das entschieden, was ich am besten kenne: Fragmente – des Lebens, der Liebe, der Geschichte und Erinnerung –, um meine Leidenschaft und Mission zu beleuchten, einen Weg durch den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu finden. Vielleicht steht auch der Ort selbst, das heißt Israel/Palästina, symbolisch für etwas anderes, das ich besessen habe und dann auch wieder nicht; an meinen Figuren und ihren zutiefst beeinträchtigten Beziehungen wird dies exemplarisch vorgeführt. Das gilt selbst noch für meine Großeltern, für ihre Beziehung zu diesem Land, für meine Beziehung zu ihnen und auch für die anderen Beziehungen im Film. Vielleicht weiß ich überhaupt nicht, wie man eine Geschichte auf eher traditionell narrative Weise erzählt. Ich glaube, mir ist im Laufe der Jahre klar geworden, dass ich die Komplexität einer Situation am besten durch die Überbleibsel einer Narration vermitteln kann, indem ich Bezüge verwende, mit denen man sich identifizieren kann. Mich persönlich befriedigen Momente und Erfahrungen immer mehr als Geschichten.
Frage: Die Präzision, mit der du das Material verwendest, um eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, zeigt sich auch im Umgang mit Materialität als solcher; das spiegelt sich auch in deiner Behandlung von Texten und Texturen. Wie hat sich deine Vorstellung von Visualität, von Text-Bild-Relationen entwickelt? Wie hat sich etwa deine Verwendung von geschriebenem Text im Film entfaltet, wie hast du die unterschiedlichen Materialien, das Alte und das Neue, das Gefundene und das ‘neu Gemachte’ gehandhabt?
E.F.: Das gefundene Archiv und seine Bildlichkeit, seine Fragilität und seine konkrete Beschaffenheit waren die Bindeglieder, die ich brauchte, um Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu verbinden, um darin nach Antworten zu suchen. Ich ertappe mich oft dabei, Bilder als Belege zu betrachten, als Markierungen für etwas, das zugleich verloren und wiedergefunden wurde, das meine Aufmerksamkeit fesselt. Mit der Leidenschaft, die Vergangenheit in Form von Home Movies zu zeigen, stehe ich ja nicht allein. Die Faszination beim Betrachten von Home Movies, deren Figuren, die einem da entgegenwinken, man gar nicht kennt und von denen man nicht weiß, in was für einem Verhältnis sie zueinander stehen, hat sicher damit zu tun, dass man sich selbst in diesen Bildern aus der Vergangenheit sucht, dass man eine Verbindung herstellt zwischen Verlorenem und Gefundenem; in die Welt eines anderen hineinspäht, vermutlich auf der Suche nach dem verlorenen Teil von uns selbst. Seit ich begonnen habe zu photographieren, also seit zwanzig Jahren, arbeite ich mit der Verbindung von Text und Bild. Zwar nicht ausschließlich, aber doch sehr häufig. Ich habe wohl deshalb in ZERO DEGREES mit dieser Verbindung gearbeitet, weil ich zum einen meine tagebuchartige Herangehensweise an die Arbeit an diesem Film reflektieren wollte und weil es zum anderen tatsächlich eine Reise und Rück-Reise – vorwärts und rückwärts – war. Ich hatte das Gefühl, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer zu meiner Stimme weniger Zugang finden würden als zu einem geschriebenen Text, weil ich oft feststelle, dass das Publikum weniger Raum findet, um in eine Arbeit hineinzufinden, wenn man zu ihm spricht. So bin ich zur Arbeit mit geschriebenen Texten zurückgekehrt. Das Publikum soll die Lektüre als eine Entdeckung erleben, so wie das Archiv eine Entdeckung für mich war. Also eine Lektüre der Situation anstelle eines Berichts. Ich betrachte das Archiv eigentlich auf die gleiche Weise wie den Text, seine Bilder sollen genau so gelesen werden wie meine Texte. Sie sind beide eine Art von Tagebuch, Markierungen von Bewegungen durch Zeit und Raum.
Frage: Du hast ZERO DEGREES OF SEPARATION als ‘work in progress’ in vielen verschiedenen Ländern und in unterschiedlichen Kontexten gezeigt. Kannst du uns davon berichten, welche Diskussionen und Fragen, welche Art des Zuspruchs und der Kritik du damit ausgelöst hast? Inwieweit haben diese Reaktionen deine Arbeit beeinflusst? Die Reisen, die du mit dem Material zu diesem Film unternommen hast, sind immer auch als eine Form des politischen Engagements zu verstehen. Wo siehst du ganz allgemein den Ort des Films und anderer visueller Medien im Kontext von Politik und Aktivismus? Und was stellst du dir unter einem ‘politischen Films’ bzw. unter ‘politischem Kino’ vor nicht zuletzt im Hinblick auf ZERO DEGREES OF SEPARATION? Und schließlich: Wo siehst du deinen Film in seiner endgültigen Fassung, welche Präsentationsform und welche Aufführungsorte wünschst du dir für ihn?
E.F.: Ich wollte unbedingt damit anfangen, von den Problemen und der Dringlichkeit, die der Konflikt für mich birgt, zu berichten; der Wunsch, darauf aufmerksam machen, was es zu begreifen, zu bezeugen, aufzuzeichnen und zu tun gab, war so groß, dass ich eine zweiundzwanzigminütige Fassung erstellte, die ich zu einigen wichtigen Orten und Festivals mitnahm. Mir ging es außerdem darum, einen Sinn dafür zu entwickeln, wer sich eine solche Arbeit ansehen würde und ob sie im Bereich des politischen Aktivismus ihren Ort finden könnte. Ich bin überzeugt, dass sie es kann, und daher liegt mir das ganze Unternehmen auch sehr am Herzen. Ich habe die zweiundzwanzigminütige Version, die sich wirklich sehr von dem Film in seiner jetzigen Form unterscheidet, vor anderthalb Jahren in New York, San Francisco, Toronto, Los Angeles, Hamburg und Berlin gezeigt. Ich habe die Arbeit auf schwul-lesbischen Festivals und bei aktivistischen Veranstaltungen gezeigt. Viele der Zuschauerinnen und Zuschauer haben die Arbeit sehr wohlwollend aufgenommen. Es gab ein grundsätzliches Einverständnis mit meinen linken Überzeugungen wie auch mit meiner Entscheidung, den Konflikt aus einer Anti-Okkupations-Perspektive heraus zu betrachten – wie es auch alle meine Figuren tun. Daher gab es keine allzu heftigen Kontroversen, obwohl es ein Leichtes ist, Kontroversen auszulösen, wenn man diese Arbeit zeigt. In meinen Vorführungen und Diskussionen habe ich mich dann auch tatsächlich mit extrem pro-israelisch eingestellten Personen und wiederholt mit – lesbischen und schwulen – Jüdinnen und Juden auseinander gesetzt, die einen sehr konservativen Blick auf den Konflikt haben. Eine spannende Angelegenheit, weil viele Jüdinnen und Juden, genau wie die meisten Menschen, nicht wirklich wissen, was dort vor sich geht. Selbst viele Israelis nicht – das ist genau das Problem: Viele leben in Tel Aviv und realisieren gar nicht, was nur wenige Kilometer entfernt in der Westbank passiert. Die meisten Menschen kennen nur die von den Medien verzerrte Darstellung des Konflikts, in der es nur zwei Seiten gibt: die fanatischen muslimischen Selbstmordattentäter auf der einen und jüdische Opfer innerhalb einer zivilisierten Gesellschaft auf der anderen. Die Berichterstattung in radikalen Medien – die kaum wahrgenommen werden, wenn es sie denn überhaupt gibt – wittert hingegen immer sofort zionistische Verschwörungen. Aber die meisten Menschen wissen wirklich nichts von den tagtäglichen, eher nüchternen Fakten, die dieser Konflikt geschaffen hat, etwa was es heißt, in einer Stadt zu leben, die von einem Zaun oder einer Mauer umgeben ist und die man nur mit einer speziellen Genehmigung – die die meisten nicht haben – betreten oder verlassen kann. Und was es daher bedeutet, wenn du dich einer dringend notwendigen Operation nicht unterziehen kannst, weil der Spezialist dafür in einem Krankenhaus arbeitet, das für dich unerreichbar ist, da du nicht über die entsprechende Genehmigung verfügst. Oder was es heißt, jeden Tag in einer Schlange an Kontrollpunkten zu stehen, an denen achtzehnjährige Jungs über dein Schicksal entscheiden. Schaffst du es an diesem Tag zur Arbeit? Kannst du deine Familie im Nachbarort besuchen? Ganz zu schweigen von den verheerenden ökonomischen Auswirkungen. Ich sähe ZERO DEGREES sehr gerne in Kinos in Europa, Nordamerika und Asien – und natürlich im Nahen Osten, aber da habe ich wenig Hoffnung – und würde gerne mit dem Film herumreisen, um dabei zu helfen, notwendige Diskussionen über Politik und politisches Handeln im Allgemeinen und über den Konflikt im Speziellen anzustoßen. Ich würde den Film gerne im Bereich des Aktivismus verorten, nicht nur als politisches Kino. Ich unterscheide hier, denn es ist eine Sache, politisches Kino zu machen, aber es ist etwas anderes, Filme dafür einzusetzen, Veränderung und Dialog in Gang zu bringen, indem man mit ihnen präsent ist und ‘handelt’. Ich weiß, dass das ein schwieriger Weg ist, da das Politische zur Zeit letztlich von Apathie gekennzeichnet ist, ebenso wie die Überzeugung fehlt, dass Einzelne etwas bewegen können: für das Wohl aller, nicht nur im Hinblick auf persönliche Beweggründe. Es ist einfach, Menschen dazu zu kriegen, in die Kinos zu gehen, um sich das Leben von völlig Fremden oder bizarre Phänomene und Dokumentarfilme anzusehen, die das Ungewöhnliche oder das Tabuisierte zeigen oder vielmehr ausstellen. Viele erwarteten durch meinen Film, mehr über das schwule und lesbische Leben im Nahen Osten, besonders über die Gefahren und das Leiden, zu erfahren, oder dass sie eine alles überwindende Liebesgeschichte zu sehen bekämen. Aber ich wollte lieber von Personen erzählen, die eben auch lesbisch oder schwul sind, von der Komplexität eines solchen Lebens, von der Problematik, schwul zu sein, palästinensisch, eine Frau, jüdisch usw. Ich wollte Identität in ihrer ganzen Komplexität darstellen, nicht in ihrer Einfachheit oder Eindeutigkeit. Natürlich werden die meisten vom Obszönen, von der Betrachtung des Ungewöhnlichen im Leben, vom Unmöglichen angezogen. Das mag ja legitim sein, mich aber interessiert viel mehr, was möglich ist, mich interessiert die Frage, wieso wir hier sind und wie wir dieses ‘Hier-Sein’ verbessern können. Wahrscheinlich glaube ich, dass ich, indem ich das Archiv und diesen Film zeige, ein anderes Bewusstsein schaffen kann. Mit Ezra würde ich sagen, ich bin eine ‘Pessoptimistin’; oder, wie ich mich selbst bezeichnet habe: eine ‘pessimistische Optimistin’. Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas verändern kann und ob wir dazu überhaupt in der Lage sind, aber das heißt nicht, dass ich es nicht versuchen würde.
Interview: Nanna Heidenreich, Berlin, Januar 2005

Details

  • Länge

    85 min
  • Land

    Kanada
  • Vorführungsjahr

    2005
  • Herstellungsjahr

    2005
  • Regie

    Elle Flanders
  • Mitwirkende

    Edit, Ezra, Samira, Selim
  • Produktionsfirma

    Graphic Pictures Inc. in co-production with National Film Board of Canada
  • Berlinale Sektion

    Forum
  • Berlinale Kategorie

    Dokumentarfilm

Biografie Elle Flanders

Die Filmemacherin und Photographin Elle Flanders, am 2. Januar 1966 in Montreal, Kanada, geboren, lebt in New York und Toronto. Sie wuchs in Kanada und Israel auf, studierte Kunst und kritische Theorie an der Rutgers Universität und nahm am ‘Independent Study Program’ des Whitney Museums teil. Einige Zeit leitete sie das schwullesbische Film- und Videofestival ‘Inside Out’ in Toronto und war Vorstandsmitglied des unabhängigen Film- und Videofestival ‘Images’ ebenfalls in Toronto.